In keinem anderen Land ist die Kluft zwischen den offiziellen, durch die Medien verbreiteten Folklore-Klischees und der dörflichen Musiktradition so groß wie in Russland. Während der Sowjetära wurde die Volksmusik von der politischen Macht für eigene Zwecke instrumentalisiert – sie sollte die Überlegenheit der sowjetischen Lebensweise auf dem Land preisen. Ein offizieller „Folkloreklang“ wurde eingeführt, ein Regime-freundliches Repertoire abgesegnet, ein Ausbildungsnetz für „Kulturkräfte“ geschaffen. Im Radio und Fernsehen konnte man sich vor den Produkten dieser Kulturpolitik nicht retten.
Dabei fielen die Kalenderlieder oder Gesänge, die zu wichtigen Ereignissen des Lebens gesungen wurden (z.B. Weihnachts- und Osterlieder oder Hochzeitsgesänge) nicht in das offizielle Repertoire. Denn diese Musik hing mit kirchlichen oder abergläubischen (aus den vorchristlichen Zeiten stammenden) Bräuchen zusammen. Alte Bräuche, sowohl die kirchlichen als auch die dörflichen, waren als Überbleibsel aus der Zarenzeit verpönt. Diese Musik wurde ignoriert, im besten Falle wurde sie geduldet. Das rettete sie vor dem offiziellen Gleichklang, der Text- und Stilzensur.
Dabei ist dieses musikalische Material wohl das älteste, was von der russischen Folklore überliefert wurde. Denn die Lieder, die zu bestimmten Ritualen gesungen wurden, wurden auch auf bestimmte Weise gesungen, so wie die Großväter und Großmütter es gemacht hatten, Generation für Generation. Wenn Frauen ihre rituellen Lieder singen, trifft sich der Himmel mit der Muttererde in ihrem Leib – und so singen sie, von der Erde in den Himmel, mit den Füßen stampfend, mit den Armen in der Luft schwebend, mit dem Atem, der die Stimme in den Himmel hebt. Sie feiern und preisen diese Zusammenkunft und geben ihre ganze Kraft dass sie Frieden und Fruchtbarkeit hervorbringt.